08. Leben in der Feudalzeit
Fisch als Teil Luxemburgs – Gerichtsbarkeit und Grundbesitz
Fisch gehörte mit seiner Gemarkung und einschließlich der darin liegenden ehemaligen Ortschaften Litdorf und Rehlingen zur großen geschlossenen Grundherrschaft Wincheringen und war während des Mittelalters bis 1794 Teil des Großherzogtums Luxemburg. Wie bereits erwähnt erhält das Trierer Stift St. Simeon im 11. Jahrhundert von Erzbischof Poppo umfassende Besitzungen in Wincheringen und auch in Fisch und Rehlingen übertragen. Diese Besitzübertragung aus bischöflichen, vielleicht vormals königlichen Gütern, spiegelt sich noch Jahrhunderte später in den Patrnonatsrechten des Erzbischofs und dem Zugriffsrecht auf den Zehnten wider.
Die so entstehende Grundherrschaft Wincheringen, zu der auch Fisch gehört, bedeutet für den Inhaber, dass er nicht nur eine eigenständige Herrengewalt besitzt, die sich in Gerichtsbarkeit und Abgabepflicht der Untertanen niederschlägt, sondern auch Schutz vor Unrecht, Krieg und anderem Unheil bedeutet.


Ein großer fränkischer Hof – wie etwa der Rehlingerhof – wurde nicht vom Grundherrn selbst bewirtschaftet. Das besorgte für einen kleineren Teil des Guts der Meier (Verwalter) mit dem Gesinde (Knechte, Mägde, Taglöhner, Müller, Bäcker, Brauer u.a.) Der größere Teil wurde von Gehöftern (Hofleuten) bearbeitet, die auf angegliederten kleinen Höfen lebten und dem Herrn Zehnt entrichten mussten. Es waren - Freie oder Freigelassene, denen der Herr einen Hof als Lehen gab, - Minderfreie oder Hörige, die zwar persönlich frei waren, aber mit Frondiensten für den Herrn belastet waren, - Unfreie oder Leibeigene, die oft drei oder mehr Tage in der Woche Fronarbeit leisten mussten. Sie waren an die Scholle - das Land des Gutsherrn - gebunden, besaßen kein unbewegliches Eigentum und durften ohne gutsherrliche Erlaubnis nicht heiraten; bei ihrem Tod fiel das beste Stück ihrer Habe dem Herrn zu. Der Kirche gelang später die teilweise Aufhebung dieser menschenunwürdigen Regelungen.
Regelmäßig wurde die Gemeinde, damit sind die Freien innerhalb der Banngrenzen gemeint, zum "Jahrgeding" geladen. Vom Gemeindevorstand und von drei Schöffen wurden die Herrschaftsverhältnisse, der Gerichtsbezirk, die Abgaben und Dienstleistungen mündlich den Versammelten "gewiesen", später in einem schriftlichen "Weistum" festgehalten. Dann wurde zum Vorbringen von "Rügen" (Klagen über Missstände) aufgefordert. Über kleinere Vergehen entschied der Dorfvorstand, größere kamen vor das Grundgericht.
In einem solchen Jahrgeding wurde auch über die Banngrenzen „gewiesen“. Diese bildeten sich in fränkischer Zeit und wurden nach Gewohnheitsrecht überliefert. Grenzen im heutigen Sinne gab es nicht. Der Grenzverlauf war durch Marken, z.B. markante Bäume, Findlinge oder Bachläufe markiert. Erst in späteren Jahrhunderten haben die Grundherren die Gemarkungsgrenze mit Grenzsteinen versehen, wie sie heute noch auf dem Bann gefunden werden.

Einer dieser Grenzsteine wurde im Jahre 2003 restauriert und zwischen Fisch und Körrig wieder aufgestellt. Der Sandstein zeigt das Wappen der Warsberger, die spätestens ab 1557 als Besitzer des Rehlingerhofes auch in Fisch die als luxemburgisches Lehen Grundherrschaft übernahmen. Das Wappen zeigt einen aufrecht schreitenden, Gold gekrönten Löwen. Unter dem Wappen ist das Buchstabenkürzel WRB für Warsberg eingraviert, ebenso die Jahreszahl 1710.
Um 1150 wird Vische erstmals neben Liethdorf und Rehlingen genannt. Wahrscheinlich gehörte dieses Land zur Grundausstattung des vom Trierer Erzbischof Poppo gegründeten Stiftes und war somit ehemals Trierer Bistumsgut. Von besonderer Bedeutung ist, dass das geschichtliche Zentrum der Pfarrkirche und des Hofgutes nicht in der heute größten Siedlung Fisch, sondern in Rehlingen und Litdorf lag. Von diesen Siedlungen haben nur die Kirche und der herrschaftliche Hof überdauert und die Pfarrkirche bezeugt bis heute trotz Einbußen von Filialen ihre geschichtlich zentrale Funktion.
Diese eigentümliche Situation verursachte zum Teil noch heute nachwirkende Sitzverhältnisse und verantwortete das späte Entstehen von Gemeinschaftseinrichtungen in Fisch.
Im 15. Jahrhundert gelang es dem Herzogtum Luxemburg, die territoriale Ordnung im Widerstreit mit Kurtrier für sich zu entscheiden. Dies gelang über die vom Kurfürsten verlehnten und von Vögten ausgeübten Hochgerichtsrechte. Mit dem zur Herrschaft Wincheringen gehörenden Fisch reichte Luxemburg nun sehr nahe an die kurtrierische Amtsstadt Saarburg heran.
Über die dörfliche Entwicklung ist wenig bekannt. Zumindest ist die Größe des Dorfes durch die Beschreibung des Hochgerichtsbezirkes 1537 bekannt. Danach hatte Fisch sechs Feuerstellen, was etwa 50 Einwohnern entspricht. Rehlingen ist mit zwei Feuerstellen bezeichnet und Litdorf nicht mehr erwähnt. Die gesamte Entwicklung des auch heute noch landwirtschaftlich orientierten Ortes blieb bis zum Ende der Feudalzeit bescheiden.
Von der fränkischen Siedlung Litdorf ist allein die Pfarrkirche erhalten. Schon vor dem Dreißigjährigen Krieg wird der Ort nicht mehr erwähnt und fehlt schon bei der Bestandaufnahme der Feuerstellen 1537. Die Visitation von 1569 verzeichnet die Pfarrei unter dem Namen Rehlingen und 1743 besteht Unsicherheit, ob der Pfarrort nicht Rehlingen heißen müsste, da es einen Ort Litdorf nicht gibt. Littdorf zählte nach der auf Erzbischof Albero (1131 bis 1152) zurück gehende Wallfahrtsliste zu den Pfarreien, die seit dem 10. Jahrhundert nach Mettlach wallfahrten. 1569 wird auch der Umfang der Pfarrei bekannt, die mit den Filialen Mannebach und Kahren (samt Rehlingen und Kümmern) auch unter trierischer Landeshoheit stehenden Ort umfasste. Das Patronatsrecht befand sich seit der Nennung der Inhaber im 15. Jahrhundert in den Händen der Eigentümer des Hofgutes Rehlingen, gehörte zuvor jedoch dem Bistum und der Erzbischof blieb Hauptzehntherr.
Ob Rehlingen einen eigenständigen Ort bildete, ist unbekannt, dafür sprechen jedoch einige Baureste. 1537 bestand Rehlingen jedoch nur aus zwei Feuerstellen und anlässlich der Visitation 1743 wird bekannt, dass es keine eigene Gemeinde bildete und aus dem Warsberger Hof und dem Pfarrhaus besteht. Das Hofgut kaufte 1440 der kurtrierische Amtmann in Saarburg Oswald von Bellenhausen von Theis von Rehlingen. Es war ursprünglich Lehen des Trierer Domstiftes oder des St. Simeon Stiftes. Das aus mehreren Gebäuden, darunter eine Mühle, bestehende Hofgut kauften 1557 die Freiherren von Warsberg. Sie richteten im Hofhaus eine 1743 konsekrierte Hauskapelle des hl. Johannes von Nepomuk ein. Zum Rehlinger Hof gehörte ein Landbesitz, der mit 372 ha. größer war, als der ganze Bann von Fisch mit 318 ha.
Der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges
Dieser europäische Krieg führte in nahezu ganz Deutschland zu unglaublichen Verwüstungen und Bevölkerungsverlusten. Man nimmt an, dass rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung Deutschland infolge von Krieg, Hunger und Seuchen ums Leben kam. In manchen Gegenden, darunter auch der Saargau als ständige Kriegsroute einfallender Heereshaufen und herumziehender Marodeure, muss sogar mit einer noch höheren Verlustquote gerechnet werden.
Wie verheerend im wahrsten Sinne des Wortes diese Zeit hier bei uns war, sollen ein paar Beispiele aus Nachbarorten des Trierer Amtes Saarburg zeigen.
Noch bis 1632 war unsere Region weitgehend von den Kriegsereignissen verschont geblieben. Nach dem Kriegseintritt Frankreichs änderte sich dies jedoch. Innerhalb weniger Jahre führten die Plünderungszüge von Soldaten aller kriegsführenden Parteien zu einer Katastrophe unbekannten Ausmaßes. Ganze Dörfer verschwanden von der Landkarte und ehemals bebautes Ackerland war wieder verwildert.
In einer Verzeichnis des Amtes Saarburg heißt es hierzu: „Palzem, Körrig und Soest sind ganz abgebrannt.“ Kaiserliche und Bayrische Soldaten verübten an den eigenen Untertanen ungeheuerliche Gräueltaten. In dem Bericht heißt es: „Mann, Weib und Kinder wurden aufgehangen, in glühende Backofen gesteckt und ihnen der Schwedentrunk (Jauche) eingeschüttet.“ Hände und Füße wurden abgehackt, Frauen vergewaltigt und fortgeschleppt. Kinder wurden zum Kriegsdienst gepresst.
Mit den Soldaten kamen die Seuchen ins Land. Bereits vor 1632 kam es immer wieder zu Ausbrüchen der Pest und Typhus. Zwischen 1632 und 1636 wurde das Luxemburger Land von einer schweren Pestepedemie heimgesucht. In dieser Zeit entstanden vielerorts Sebastianus-bruderschaften, die Bußwallfahrten organisierten und sich um die Kranken, Toten und Hinterbliebenen sorgten.
Die Furcht vor den Soldaten und den Seuchen trieb viele Menschen in die Wälder, wo man sich von Beeren und Gräsern ernähren musste. Wie groß die Hungernot sein musste, wenn die Felder verwüstet, die Ernte beschlagnahmt und die Tiere als Nutztiere oder Futter requiriert waren, kann man sich heute nur schwer vorstellen. Viele Dörfer waren menschenleer, ehemals gepflegte Feldfluren verödeten und verwilderten. Einige Zahlen mögen das verdeutlichen. Von den 1478 Pferden im Amt Saarburg (das waren 40 Prozent mehr als 1950!) waren am Ende des Krieges ganze 118 übrig. In den kleineren Orten des Saargaus gab es überhaupt keine Pferde mehr. Ebenfalls besonders hart war der Saargau hinsichtlich des Verlustes von Rindern getroffen. Ganze 5 Prozent des Rinderbestands waren am Kriegsende noch vorhanden; auf dem Gau in vielen Orten kein Stück mehr. Auch die vormals 11.000 Schafe und 1.300 Ziegen waren faktisch restlos verschwunden. Der Ertrag der Ernten sank um 1650 an Roggen auf 8 Prozent der ehemaligen Ernte, bei Hafer auf 7 Prozent und Weizen sogar auf nur noch 2 Prozent. Die Überlebenden hatten schließlich riesige Geldsummen für die Kosten des Krieges und des Wiederaufbaus aufzubringen. Viele Dörfer waren hoffnungslos überschuldet. All dies führte zu einem Bevölkerungsrückgang unbekannten Ausmaßes. 1684 waren in Mannebach und Kümmern noch gerade 6 von ehemals 14 Haushaltungen übrig. In Körrig war es von ehemals fünf noch einer. Bilzingen war ganz verwaist. In Tawern war die Zahl der Haushalte von 27 auf gerade noch ein Viertel (7) gesunken.
Die Glockenfehde zwischen Fisch und Mannebach
Die von Michel Winter niedergeschriebene Erzählung gibt einen guten Eindruck von der Nachbarschaft zwischen dem luxemburgischen Fisch und dem trierischen Mannebach. Sie sei hier ungekürzt wiedergegeben.
Bis zur Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen im Jahre 1794 gehörten die beiden Saargaugemeinden Fisch und Mannebach verschiedenen Herrschaften an. Mannebach zählte zum Trierer Erzstift, während Fisch zusammen mit dem Rehlinger Hof und dem alten Pfarrort Litdorf Teil des österreichischen Großherzogtums Luxemburg war. Zu dieser Pfarrei gehörten im 18. Jahrhundert die Orte Mannebach, Kümmern, Fisch, Rehlingen, Kahren und teilweise Körrig. Warum gerade die fränkische Siedlung Litdorf im Mannebachtal als religiöser Mittelpunkt ausersehen wurde, ist bis heute unbekannt. Der Ort Litdorf war schon lange vor dem Dreißigjährigen Krieg, vermutlich um 1555, durch die Pest untergegangen. Nur die im 11. Jahrhundert erbaute und dem Hl. Jakobus geweihte Kirche war, wenn auch stark beschädigt, stehengeblieben. Nur der Turm überstand unbeschadet die folgenden Jahrhunderte.
Zwei alte Glocken befinden sich heute im Turm der Kirche. Die Kleinere der beiden ist der Form nach zu urteilen ein sogenannter Zuckerhut. Fast ohne Dekor, wurde sie um das Jahr 1250 gegossen. Die Größere ist dem Schutzpatron der Pfarrkirche geweiht. Neben reichem Dekor trägt sie folgende Inschrift: IN GOTTES NAMEN LAUTEN ICK BOES WETTER VERTREIBEN ICK JAKOB DER GROER HISCHEN ICH – ANNO DOMINI 1594.
Mitte des 18. Jahrhunderts nun war das Herzogtum Luxemburg in die kriegerischen Auseinandersetzungen jener Zeit verwickelt. Schon damals war es bei den Herrschern Sitte, die Hand nach der Bronze der Kirchenglocken auszustrecken, die für Geschütze benötigt wurde. Dieses Schicksal schien auch den beiden Glocken im Turm der Pfarrkirche in Litdorf bevorzustehen. Irgendwie war die geplante Einziehung der Glocken bekannt geworden und stieß auf den Unwillen der Bevölkerung. Sollte man neben den hohen Frohn- und Steuerlasten als Folge des Krieges nun auch noch die Glocken opfern? Man suchte nach einem Ausweg, um die Glocken dem Zugriff des Landesherrn zu entziehen und im Besitz der Pfarrei zu halten.
Die nahe „Grenze“ zum Trierer Nachbarn Mannebach gab den Ausschlag. Da große Eile geboten schien, seilte ein Trupp verwegener junger Männer die Glocken in der Nacht ab und brachte sie im Morgengrauen nach Mannebach. In einem Bongert, einer mit einem Zaun umfassten Wiese zum Bleichen der Leinen, neben dem heutigen Mannebacher Brauhaus, wurde nach Vereinbarung mit den Einwohnern Mannebachs schnell ein Gerüst errichtet und daran die Glocken provisorisch aufgehangen. Die Mannebacher gaben das Versprechen, die Leihgabe sorgsam zu hüten, bis wieder friedliche Zeiten für den Nachbarort anbrechen würden. In Mannebach war man sehr erfreut über die kostbare Leihgabe und betrachtete mit der Zeit die Glocken als willkommenes Geschenk. Ein Glöckner war schnell gefunden, und hinfort wurden pünktlich zu den üblichen Zeiten die Klöppel der beiden Glocken bewegt.
Vorerst war man in beiden Dörfern mit der Notlösung zufrieden. Während man in Fisch sehnsüchtig auf den Frieden und die Heimkehr der Glocken in den verwaisten Kirchturm wartete, hatte man in Mannebach keine Eile. Man fand es gut so, der Klang der Glocke gehörte schon zum Dorfalltag. Das Dorf hatte zu dieser Zeit noch keine Kirche, lediglich eine kleine Kapelle, der Hl. Anna geweiht, ein sogenanntes Oratorium. Wen wundert da der Sinneswandel der Mannebacher, die schließlich nach gut einem Jahrzehnt nicht mehr zur Herausgabe der Glocken bereit waren?
Im Luxemburgischen war der Krieg endlich zu Ende. Das Land und die Menschen erholten sich langsam von der Last der zurückliegenden Kriegs- und Notjahre. Der Alltag kehrte auch nach Fisch zurück. Doch machte sich an Sonntagen und bei Begräbnissen das beharrliche Schweigen des nahen Kirchturms schmerzlich bemerkbar. Im Dorf machte sich die Stimmung breit, diesen Zustand nicht länger hinzunehmen. Als nach all den Jahren schließlich zwei Hochzeiten ins Land standen, gelobten die Brautleute, nicht ohne feierliches Geläut den Festtag begehen zu wollen. Nun ergab es sich, dass im zeitigen Frühjahr die beiden Dorfmeier von Fisch und Mannebach beim Pflügen zusammentrafen. Auf dem Pfluggrendel sitzend, gönnte man den Ochsen eine Rast, derweil die beiden Treibjungen in einer nahen Schwarzdornhecke einem Kaninchen nachstellten. Das Gespräch der älteren Männern ging hin und her, es gab ja so viel zu erzählen nach all den Kriegsjahren. Als man schließlich wieder zur Arbeit aufbrach, sagte der Fischer Meier: „Wenn wir den Samen im Boden haben, kommen wir die Glocken holen.“ Der Mannebacher, schon halb im Gehen, drehte sich um und fragte: „Pressiert es den nun so?“ und ging zu seinem Gespann. Der Fischer überhörte die Frage und meinte, er würde früh genug Bescheid geben. Dieser kam dann nach 14 Tagen, doch in Mannebach lachte man den Boten aus und verlangte nach einem Schriftstück als Beweis, das natürlich nicht vorgelegt werden konnte.
Der Flurschütz stieß nach seiner Rückkehr mit seinem Bericht auf Unglauben. Ein Wortbruch! Landauf und landab galt ein Versprechen, das mit einem Händedruck besiegelt wurde, genau so viel wie Brief und Siegel. Auf der Stelle spannte der Fischer Dorfmeier seinen Ochsen vor den Wagen, schnappte sich zwei Männer und fuhr in den Nachbarort, um sich selbst Gewissheit zu verschaffen. Dort hatte man sie schon erwartet. Das ganze Dorf war auf den Beinen und baute sich vor dem Glockengerüst auf. Eine Diskussion wurde mit dem Bescheid: „Finger weg von den Glocken, die gehören Mannebach!“ abgetan. Mit zornesroten Köpfen traten die Fischer den Heimweg an. Ein offener Konflikt, gar eine gewaltsame Wegnahme musste vermieden werden, zog doch Landfriedensbruch schwere Strafen nach sich. Und auch die Möglichkeit, sich um Hilfe an den eigenen Landesherrn zu wenden, bestand nicht – hatte man doch eben diesem ein Schnippchen schlagen wollen.
So hieß es kühlen Kopf bewahren, die erregten Dörfler zu besänftigen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hieß die Devise. Mit demonstrativer Gelassenheit ertrug man an den folgenden Sonntagen, wenn sich die beiden Dorfgemeinschaften in der glockenlosen Pfarrkirche zum Gottesdienst trafen, die spöttischen Bemerkungen der Mannebacher. Zudem wurde in der Sommerzeit jede Hand auf dem Felde gebraucht. Von früh bis spät galt es, die Ernte in die Scheune und den Keller zu bringen – für verwegene Pläne oder lange Diskussionen war keine Zeit.
An einem Septembertag zog nun ein südländisch aussehender Mann von ca. 50 Jahren mit Knotenstock und Feldranzen über die Kimm, die alte Römerstraße über den Saargau, nach Fisch hinein. Ein längst totgeglaubter Fischer, Theilen Häns, war aus dem Kriegsdienst heimgekehrt! Als 16-jähriger hatte er sich einer berittenen spanischen Escadron, die im Dorf Quartier bezogen hatte, angeschlossen. Zuerst als Pferdebursche, schließlich als Söldner war er in spanischen Diensten quer durch halb Europa gezogen und sogar bis in die Neue Welt gekommen. Wegen seiner schwarzen Haare und seiner braungebrannten Haut wurde er fortan nur noch „Schworzen“ genannt.
Als man seinen Erzählungen gelauscht und selbst berichtet hatte, was sich im Heimatdorf zugetragen hatte, kam die Sprache natürlich auch auf die abhanden gekommenen Glocken. „Das kann so nicht bleiben; das wird schnell geändert“, war seine Antwort. Fortan sah man den Schworzen häufiger im vertraulichen Gespräch mit dem Dorfmeier, dem Schmied und einigen jungen Männern. Doch welcher Plan da ausgeheckt wurde, drang nicht nach außen.
Der November kam, Nebelschwaden und Landregen lösten sich im öden Einerlei ab. Die Frauen trafen sich zu den allabendlichen Spinnarbeiten reihum in den Wohnstuben. Diese Woche saß man im „Wirwesch“-Haus zusammen, als man bemerkte, dass die Männer, die ansonsten das Feuer unterhielten und für kleinere Handreichungen sorgten, ausblieben. Auch blieb die „Purt“, das Tor der Schmiede, auch am Tage geschlossen. Drinnen werkelte man an einem Wagen, schnippelte an langen Eschenstäben und hatte aus Grummet meterlange, girlandenähnliche Seile gedreht. Aber man wurde nicht so recht schlau aus dem Getue der Männer und auf neugierige Nachfragen bekam man nur dumme Antworten.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Man sah den Meier an einem Nachmittag dem Rehlinger Hofgut der Warsberger zueilen. An den beiden Mühlen vorbei verschwand er durch die kleine Pforte in der Umfassungsmauer des Hofes. Gleich darauf verließ er mit dem Verwalter das Gehöft, wobei man sah, dass sich beide einig geworden waren. In der großen Scheune des Gutes war ein Teil der Fischer Männer beim Roggendreusch – drei Tage in der Woche war man zur Frohn verpflichtet. Doch heute verstummte zu einer ungewöhnlich frühen Zeit das Klick-Klack der Dreschflegel und die Männer verließen den Gutshof Richtung Fisch. Auch die abendliche Fütterung in den Ställen verlief schneller, weniger sorgfältig als an den anderen Tagen. Bevor die Frauen das Melken beendet hatten, waren die meisten Männer schon aus dem Haus. Alte dichte Filzhüte über den Kopf gestülpt – so wollte man dem herbstlichen Wetter trotzen. Sie trafen sich beim „Schmatt-Hänschen“, wo man den Anweisungen des Schworzen lauschte, der die Stunde gekommen sah, in der die Glocken aus Mannebach den Heimweg nach Fisch antreten sollten. Das Wetter war günstig: Nieselregen, dazwischen trieb ein anhaltender Ostwind dicke Nebelschwaden durch das Tal. In zwei Gruppen wurden die Männer eingeteilt: die Jüngeren sollten unter seiner Führung zuerst das Dorf in Richtung Mannebach verlassen. Die Älteren würden später mit dem Teimer, einem Kastenwagen, und verstärkt durch Verwalter und Knechte des Rehlinger Hofes folgen. Die Eschenstäbe wurden an den Vortrupp verteilt. Sie glichen den Wanderstäben der Apostelpilger, die man das ganze Jahr hindurch auf der alten Römerstraße, dem Jakobusweg nach Santiago de Compostella, antreffen konnte.
Der Fischer Schweinehirt war nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Auftrag nach Mannebach geschickt worden, nach dem Verlöschen der letzten Lampe Meldung zu machen. Als dann nach und nach die letzten Petroleumlampen verlöschten, machte er sich auf den Heimweg. Als er, eingehüllt in einen Ziegenfellmantel und begleitet von seinem Wolfshund beim Meier erschien, kam Bewegung in die wartende Männerschar. Auf Wink des Schworzen trat der Vortrupp den Weg zum 25 Minuten entfernten Mannebach an. Die zurückgebliebenen schoben den frisch geschmierten Wagen, in dem bereits einige Bauschen Stroh und ein kräftiger Hammer lagen, durch das Scheunentor. Zwei Pferdebauern brachten je ein Pferd herbei, denen schon am Nachmittag die Hufeisen entfernt worden waren. Das Ledergeschirr roch nach frischem Leinöl – alles war glatt und geschmeidig. Die Zugketten hatte man gegen starke Hanfseile ausgewechselt. Kein Klappern und Klirren sollte die Nacht durchdringen. Mit dem gewohnten Fuhrmannsspruch „In Gottes Namen“ setzte sich das Gefährt in Bewegung.
Inzwischen war der Schworze mit seinen Leuten unbemerkt an die Glocken herangekommen. Doppelposten umstellten den Bongert. Die restlichen Männer waren mit den Glocken selbst beschäftigt. Die Klöppel wurden mit den nassen Leinensäcken fest umwickelt, um die Glockenmäntel die inzwischen vom Regen schwer gewordenen Grummetseile geschlungen. Die Klammern und Bolzen der Verankerung wurden sorgfältig gelockert, um später die Glocken rasch abzusenken. Zufrieden mit der bisherigen Arbeit, ging der Schworze dem Wagen aus Fisch entgegen. Hin und wieder drang vom Wiesental rechter Hand ein Lichtschein durch. „Et Miller Pittchen“ aus der Mannebacher Mühle, ein kluger, weitgereister Mann, saß sicher über seinen Büchern. Von ihm drohte keine Gefahr. Der sandige, steinlose Wiesenweg führte genau in die Dorfmitte Mannebachs, wo die Glocken hingen. Nur noch ein kleiner Bach und die Hauptstraße waren zu überqueren, dann erreichte man den Bongert. Es gelang, die Pferde unter den tiefhängenden Glocken hindurchzuführen, so dass der Wagen unter ihnen zum Stehen kam. Nachdem die Bolzen entfernt worden waren, konnten die Glocken auf die vorbereitete Strohhütte abgesenkt werden. Fast lautlos trat das Gespann den Heimweg an.
Bald war die Banngrenze erreicht, die gleichzeitig die Landesgrenze zwischen Luxemburg und Kurtrier war. In der Sau, einem Fischer Flurteil, angelangt, ließ der Meier den Wagen anhalten, befreite die große Glocke aus ihrem Klang schluckenden Gewand und schlug mit dem mitgeführten Hammer drei Mal an. Der dröhnende Klang pflanzte sich durch das von einem Bächlein durchflossenes Nebental des Mannebachs fort bis hinauf zum Dorf auf dem Hang vor der Kimm. Dies war das verabredete Zeichen: die Glocken sind auf Fischer Grund und Boden!
In Fisch war bereits alles in hellem Aufruhr. Drei Halbwüchsige kamen mit dem Ruf „Se kommen, se kommen“ angelaufen. „Wir haben es läuten hören“, bestätigten sie mit Nachdruck. Das Glockengespann hatte mittlerweile den Bach überquert und war ein Stück bergauf gefahren. Mit weit ausholenden Schritten nahmen die Pferde, die heimischen Stall schon riechend, den steilen Anstieg und standen schließlich mit zitternden Flanken vor dem heimischen Hof. In kürzester Zeit umringten die Dorfbewohner das Fuhrwerk, um die kostbare Fracht in Augenschein zu nehmen. Die meisten hatten die Glocken noch nie gesehen. Nachdem die Pferde versorgt und der Wagen in der Scheune untergestellt worden war, zogen die Männer zu einem außergewöhnlichen Nachtmahl samt Umtrunk davon. Diese Zeit nutzten die Mädchen, die Glocken mit Speckschwarten auf Hochglanz zu bringen und mit Girlanden zu schmücken. Bevor man in jener Nacht auseinander ging, einigte man sich darauf, nach der morgendlichen Fütterung die Glocken hinab in den Kirchturm zu bringen.
Es wurde eine kurze Nacht für die Fischer Dorfleute. Am frühen Morgen setzte sich die Kolonne, nun halbwegs festlich gekleidet, Richtung Kirche in Bewegung. Der Klausner, der auch den Küsterdienst versah, schloss auf, das Werk konnte beginnen: Aus dem Inneren des Kirchenschiffs über eine Steintreppe wurden die beiden Glocken in den Turm gehievt. Dem Pfarrer im 800 Meter südlich der Kirche gelegenen Pfarrhaus war das seltsame Treiben um die einsam gelegene Kirche nicht entgangen. Begleitet von seinem Knecht erschien er auf der Bildfläche und kam aus dem Staunen nicht heraus. Er ließ sich über jede Einzelheit der verflossenen Nacht unterrichten und freute sich sichtlich über die gelungene Aktion. Spontan schickte er den Knecht zurück zum Pfarrhaus, um für eine gute Brotzeit zu sorgen. Es dauerte nicht lange, bis das Gewünschte herankam. Freigiebig wurden Brot, Butter und Speck verteilt, aus einem dicken Bommes köstlicher Saarwein ausgeschenkt, hatte das Pfarrgut doch in Ayl, in bester Lage, einen stattlichen Wingert. Nach der Vesper bat der Pastor alle Anwesenden in die Kirche. Sichtlich bewegt, dankte er allen Helfern für die Rückkehr des Geläuts. Gemeinsam wurde ein Dankgebet verrichtet und das Te Deum gesungen. Mit mächtigem Klang fielen die beiden Glocken in den Lobgesang der Leute von Fisch und vom Rehlinger Hof ein. Fast alle hatten sich eingefunden. Über den „Korler Rourd“, dem Kahrener Kirchenweg, kam eine große Anzahl Leute aus Kahren und Körrig herbei.
Der Schall der Glocken drang auch talabwärts und dem letzten Mannebacher wurde jetzt bewusst, wohin die Glocken verschwunden waren. Zum Schreck der Morgenstunde – die Nachricht war in Windeseile durch den Ort gelaufen – gesellte sich heimlicher Groll ob der erlittenen „Ohrfeige“. Sie drehten nun den Spieß um und bezichtigten nun die Fischer des Glockenraubes, jedoch erfolglos. Obwohl am folgenden Sonntag etliche Mannebacher in der Kirche fehlten, war diese bis auf den letzten Platz gefüllt. Die gesamte Familie Warsberg hatte im Chorgestühl beidseits des Altares Platz genommen. In seiner Begrüßung vor Beginn der Messe dankte der Seelsorger im Namen der Pfarrgemeinde für die geglückte Heimkehr der Glocken. Niemand sei zu Schaden gekommen, die schmerzlich empfundene Abwesenheit beendet. Den Mannebachern sei nicht minderherzlich gedankt, sprach er weiter, hätten sie doch den Glocken 12 Jahre Asyl gewährt und damit der Pfarrei einen großen Dienst erwiesen. Nach dem Gottesdienst dankte auch der Reichsgraf von Warsberg den Männern des nächtlichen Unternehmens, hatten doch seine Vorfahren 1594 den Löwenanteil der Kosten für die Jakobus-Glocke getragen. Jeder Mann erhielt einen Theresientaler überreicht, der Schworze erhielt auf Lebzeit Wohnrecht im Warsberger Haus in Fisch.
Die Erzählung ist nicht erfunden, sondern beruht auf wahren Begebenheiten. Über Generationen wurde sie mündlich weitergegeben, wie so vieles, was wir an spärlichem Wissen über den Alltag jener Zeit, die Armut und karge Lebensweise sowie die Abhängigkeit vom Grundherren besitzen. Nicht immer jedoch gelang es der Dorfbevölkerung, sich gegen die Obrigkeit zu stellen. 1943 war die Glocke der Dorfkapelle für Kriegszwecke beschlagnahmt worden. Am hellen Tag wurde sie auf einen Lastwagen verladen und zur Sammelstelle nach Saarburg gebracht. Sie kehrte nicht mehr in die Kapelle zurück. Die 250 Jahre zurückliegende Glockenfehde zwischen Mannebach und Fisch ist heute nur mehr ein Anlass zum Schmunzeln, wenn in einem der beiden Nachbardörfer die zufällige Rede auf jene nächtliche Aktion in längst vergangener Zeit kommt.